21.10.2022
Offener Brief zum 29€-Ticket für Studierende
Sehr geehrter Herr Verkehrsminister Dr. Wissing,
sehr geehrte Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz Frau Dr. Schaefer,
hinter uns liegen Jahre der mangelnden Beachtung und Finanzierung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs in Deutschland und entsprechend katastrophalen Auswirkungen auf die Infrastruktur, aber auch auf die wahrgenommene Attraktivität dieser Verkehrsmittel im Vergleich zu motorisierten Individualmobilität. Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass diesem Zustand mit der geplanten Einführung des 49€-Tickets zum 01.01.2023 endlich Abhilfe geschaffen werden soll. Diese gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern hat das Potenzial den lang ersehnten Durchbruch bei der Verkehrswende in Deutschland zu bringen.
Während ein 49€-Ticket für die Breite der Gesellschaft und insbesondere für Menschen, die mit dem Nah- und Fernverkehr zur Arbeit pendeln sowohl eine signifikante preisliche Entlastung, eine starke Tarifvereinfachung als auch eine enorme Angebotsverbesserung darstellt, bietet dieses Ticketmodel keine Entlastung für die Studierenden in Deutschland. Das Studium als Zeit der akademischen Ausbildung ist eine Lebensphase, in der das finanzielle Budget, insbesondere in Städten mit hohen Lebenshaltungskosten, sehr angespannt ist. Die Corona-Pandemie, aber auch die anhaltende Energiekrise, haben die finanzielle Lage der Studierenden nochmals verschärft. Außerdem können preisattraktive Mobilitätsangebote junge Menschen an den ÖPNV binden und so helfen, sowohl heute als auch in Zukunft Emissionen im Mobilitätssektor einzusparen und die Verkehrswende voranzutreiben.
Als Vertreter der Studierenden sowie vieler weiterer Akteure in den beiden größten bayerischen Verkehrsverbünden, dem Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) und dem Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN), möchten wir Ihnen unsere Lage vor Ort schildern1. In beiden Verbünden haben die Studierendenvertretungen zusammen mit den Studierendenwerken und den jeweiligen Tarifpartnern Semestertickets verhandelt, die als Zwei-Komponenten-Modell aus einem für alle Studierenden verpflichtenden Solidarbeitrag und einem freiwillig zu erwerbenden Aufpreisticket bestehen. Ursprünglich 2012 in München und 2015 in Erlangen-Nürnberg zu Preisen von 200€ (50€ Solidarbeitrag, 150€ IsarCard Semester) und 258€ (65€ Solidarbeitrag, 193€ Zusatzkarte) eingeführt, mussten auch diese Tickets in den letzten Jahren massive Preissteigerungen erleiden. Im September dieses Jahres wurde bekannt, dass die Semestertickets im MVV und VGN ab dem Sommersemester 2023 auf 300€ steigen werden [1]. 600€ im Jahr für die Mobilität zur Hochschule und zurück, diese Nachricht gleicht für die Studierenden einer Hiobsbotschaft [2].
Die Studierendenvertretungen in Erlangen-Nürnberg haben im Anfang 2022 eine Mobilitätsumfrage durchgeführt, bei der über 15.000 Studierende der jeweiligen Hochschulen teilnahmen2. Die Frage nach den Gründen der Verkehrsmittelwahl, die an eine Umfrage in der gesamten Bevölkerung des VCD 2014 angelehnt war, ergab dass Kosten (61,7%, 31,1% VCD), Zuverlässigkeit/Pünktlichkeit (60,0%, VCD 42,8%), Flexibilität der Nutzung (50,2%, VCD 40,7%) in dieser Personengruppe deutlich wichtiger sind als in der Gesamtheit der deutschen Bevölkerung. Zudem hat die Umfrage ergeben, dass 62,9% der Studierenden nach Abzug von Wohnraum und Versicherung weniger als 400€ im Monat zur Verfügung haben – dies inkludiert u.a. Lernmittel, Ernährung und Mobilität.
Während SchülerInnen und Auszubildende im MVV und im VGN bereits seit 2020 ein subventioniertes 365€-Jahresticket erwerben können, sind die Studierenden aktuell die einzige Gruppe, die sich ebenfalls in Ausbildung befindet, aber von dessen Bezug ausgeschlossen ist. Obwohl sowohl der Münchner Stadtrat im April [3] als auch der Erlanger Stadtrat im September dieses Jahres [4] die Aufnahme der Studierenden in das 365€-Ticket und die Übernahme eines adäquaten Anteils der Kosten beschlossen hat3, blockiert der Freistaat Bayern die zeitnahe Einführung eines solchen Tickets. Und das vor dem Hintergrund, dass die bayerische Regierung 2018 im eigenen Koalitionsvertrag die Einführung eines 365€-Tickets als Ziel ausgegeben hatte [5]. Aus unserer Sicht ist es jetzt dringend geboten dieses Thema bei der bundesweiten Reform ganzheitlich anzugehen und ein attraktives sowie gleichwertiges Modell für alle Studierenden bundesweit zu schaffen. Auch vor dem Hintergrund der galoppierenden Inflation und den massiv steigenden Energiepreisen ist es sinnvoll, die Umsetzung eines günstigeren Semestertickets jetzt voranzutreiben.
Wir appellieren daher an Sie, die Studierenden und alle anderen Gruppen in Bildung und Ausbildung im Rahmen der Verhandlungen zur Finanzierung des 49€-Tickets nicht zu vergessen. Die Einführung eines 29€-Ticket würde für sie nicht nur eine enorm wichtige zielgruppenspezifische Entlastung bedeuten, sondern stellt auch eine nachhaltige Investition in die Stärkung des Bildungs- und Wissenschaftsstandorts Deutschland dar.
Mit freundlichen Grüßen
Judith Greil
Vorsitzende des Kreisjugendring München-Stadt
Maximilian Frank
Koordinator des AK Mobilität der Münchner Studierendenvertretungen
Dr. Ursula Wurzer-Faßnacht
Geschäftsführerin (komm.) des Studentenwerk München
Paulus Guter
Koordinator des AK Semesterticket Erlangen-Nürnberg
Mathias M. Meyer
Geschäftsführer des Studentenwerk Erlangen-Nürnberg
Die Münchner Stadtratsfraktionen:
Die Mitglieder des Netzwerks Junge Mobilität:
Zweitunterzeichner (Stadtratsfraktionen und Jugendorganisationen aus Erlangen):
Quellen
[1] https://www.mvv-muenchen.de/mvv-und-service/presse/pressemitteilungen/news/detail/news/neue-fahrpreise-im-mvv-zum-fahrplanwechsel-am-11-dezember-2022/index.html
[2] https://www.semesterticket-muenchen.de/media/2022/09/2022-09-19-Preisschock-im-Muenchner-Semesterticket.pdf
[3] https://risi.muenchen.de/risi/dokument/v/7118180
[4] https://ratsinfo.erlangen.de/vo0050.asp?__kvonr=2137448
[5] https://www.csu.de/common/csu/content/csu/hauptnavigation/dokumente/2018/Koalitionsvertrag__Gesamtfassung_final_2018-11-02.pdf; S.48
1 In beiden Verkehrsverbünden studieren 215.000 Studierende (130.000 im MVV, 85.000 im VGN).
2 Detaillierte Aufbereitung der Ergebnisse siehe https://semesterticket.org/umfrage/
3 Das 365€-Ticket für SchülerInnen und Auszubildende basiert auf einer geteilten Finanzierung, in der der Freistaat Bayern ⅔ der Kosten und die beteiligten Kommunen ⅓ der Kosten tragen.